Storytelling durch Typografie

Typografie ist nicht nur ein Mittel zum Zweck, um eine Geschichte zu erzählen. Die Wahl der Schrift kann auch einen Einfluss darauf haben, wie glaubwürdig wir diese Geschichte finden oder welche Assoziationen sie in uns weckt. Es geht nicht nur darum, was wir sagen, sondern auch in welcher Schrift wir es sagen.

Schrift mit Persönlichkeit

Warum werden bei Hochzeitseinladungen meist verschnörkelte Schreibschriften verwendet? Die Rebellin in mir hat immer wieder mal versucht etwas anderes vorzuschlagen. Meistens wurde das aber vom Kunden nicht geschätzt? Vermutlich, weil Helvetica emotional eher Steuererklärung sagt, als romantisches Event. Wir verbinden mit verschiedenen Schriftarten verschiedene Persönlichkeiten, die Schrift ist ein Akteur und nicht nur ein Informationsträger. Diese Wahrnehmung hat mit Erfahrungen im Alltag zu tun, sie wird beeinflusst von unserer Geschichte, Filmen, Modemagazinen usw. Wenn die Persönlichkeit einer Schrift nicht übereinstimmt mit dem Gefühl, das wir mit dem Inhalt verbinden, kann die Glaubwürdigkeit der Information leiden.

Im Sommer 2012 gelang dem CERN ein wissenschaftlicher Durchbruch, die Existenz des Higgs Boson Teilchens konnte nachgewiesen werden. Ich werde jetzt nicht so tun, als wüsste ich was das bedeutet, der für unseren Zweck spannende Teil dieser Geschichte ist die dazugehörige Präsentation, mit der diese Sensation der Welt vorgestellt wurde.

Auszug aus dem Slidedeck des CERN. Ja, das ist Comic Sans und bunt. Quelle: slideshare.net

Auf den Slides ist prominent die von Designern dieser Welt vielgehasste Schrift Comic Sans zu sehen. Es kam, wie es heutzutage kommen musste: Comic Sans und das CERN trendeten auf Twitter. Warum diese Empörung? Comic Sans ist in diesem Fall der gestalterische Antichrist, eine Schrift, die mehr an Kindergeburtstag als an Physik erinnert. Wahl der Schrift und das Thema des Textes könnten nicht weiter auseinander liegen. Kann man so präsentierten Inhalt noch ernst nehmen? Oder ist die Auswahl vielleicht sogar ein genialer Versuch, ein kompliziertes Thema leicht zugänglich zu machen?

Kann die Schriftwahl die Glaubwürdigkeit einer Aussage beeinflussen? Ein Experiment des Dokumentarfilmers Errol Morris legt dies nahe. 2012 publizierte er einen Artikel namens «Are you an Optimist or a Pessimist» in der Online-Ausgabe der New York Times und fragte die Leser am Schluss nach ihrer Zustimmung. Was die Leser nicht wussten war, dass der Artikel nach dem Zufallsprinzip in sechs verschiedenen Schriftarten dargestellt wurde. Morris fand heraus, dass die Befragten den Artikel glaubwürdiger fanden, wenn sie mit Baskerville geschrieben war als mit Computer Modern, Georgia, Helvetica, Trebuchet oder Comic Sans.

Welche Aussage wirkt glaubwürdiger? Von oben nach unten: Baskerville, Helvetica, Trebuchet, Georgia, Comic Sans

Ist also Baskerville die Lieblingsschriftart der Wahrheit? Vertrauen entsteht, wenn Inhalt und Schriftart zusammenpassen. Im Kontext eines Zeitungsartikels ist es plausibel, dass eine Schrift mit Serifen am glaubwürdigsten erscheint. In einem anderen Kontext wäre vermutlich nicht zwingend die Baskerville die Hüterin der Wahrheit.

Typografie ist also nicht nur die Wahl einer schönen Schrift, sie kann unbewusst den Leser beeinflussen und dabei helfen, eine Geschichte zu unterstützen und Emotionen zu wecken.

Anatomie der Schrift

Schriften werden anhand von verschiedenen Merkmalen voneinander unterschieden und kategorisiert. Was zum Beispiel sind eigentlich diese Serifen und wo gehören sie hin?
Bevor wir uns weiter mit den verschiedenen Schriftarten und ihren Unterschieden beschäftigen, ein kleiner Exkurs in die Anatomie einer Schrift.

Auszüge aus der Anatomie einer Schrift

Serifenschriften (Serif Font)

Wie der Name schon sagt, zeichnen sich Serifenschriften durch die eleganten kleinen «Anhängsel», die Serifen, aus. Sie haben eine lange Tradition und gelten in gedruckter Form als besonders gut lesbar. Deshalb werden sie gerne für Fliesstext in Büchern und Zeitungen verwendet. Serifenschriften sind ein bisschen wie das kleine Schwarze der Schriftwelt, ihr Erscheinungsbild ist klassisch und traditionell und passt (fast) immer.

Besonders beliebt sind Serifenschriften bei Versicherungen, Anwaltskanzleien und Beratern, weil sie Vertrauen, Wissen und Autorität in ihrem Metier vermitteln wollen. Auch die Modeindustrie und luxuriöse Hotels nutzen gerne die elegante und professionelle Wirkung von Serifenschriften.

Wirkung von Serifenschriften

  • traditionell
  • seriös
  • vertrauenswürdig
  • elegant
  • klassisch
  • professionell / formell
Auswahl von traditionellen Serifenschriften
Anwendungsbeispiele von Zeitungen zur Modeindustrie

Serifenbetonte Schriften (Slab Serif Font)

Serifenbetonte Schriften entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als der Bedarf für auffälligere Werbeschriften anstieg. Sie sind also so etwas wie der jüngere Bruder in der Seriffamilie – ähnliche Eigenschaften, aber mit jugendlichem Selbstbewusstsein. Durch die eher quadratischen Serifen wirken Sie viel schwungvoller und markanter, aber immer noch traditionell. Sie hinterlassen einen starken und nachhaltigen Eindruck.

Wirkung von serifenbetonten Schriften

  • kühn
  • markant
  • selbstbewusst
Auswahl von serifenbetonten Schriften
Ein kleiner Auszug von Markenlogos, die eine serifenbetonte Schrift verwenden

Serifenlose Schriften (Sans Serif)

Der Siegeszug der serifenlosen Schriften begann mit der Industrialisierung. Dadurch, dass die Schriften ohne Serifen auskommen, wirken sie sauber, modern und zeitlos. Sie sind ein klarer Bruch mit der Tradition. Mit ihnen werden Abenteuer und Modernität assoziiert. Gerne werden sie von Marken verwendet, die sich selbst als zukunftsorientiert, innovativ und modern sehen (Google änderte sein Logo zum Beispiel 2015 zu einer Version ohne Serifen).

Serifenlose Schriften sind aus unserem Alltag nicht wegzudenken, auf Infotafeln, Wegweisern und Formularen werden sie gerne verwendet. Auf Screens sind sie aufgrund ihrer Klarheit einfacher zu lesen als Schriften mit Serifen. Einer der bekanntesten serifenlosen Schriften, Helvetica, wurde sogar ein eigener Dokumentarfilm gewidmet.

Wirkung von serifenlosen Schriften

  • sauber
  • klar
  • modern
  • geradlinig
  • zeitlos
  • konstruktiv
  • sachlich
  • objektiv
Sans Serif auf freier Wildbahn
Verschiedene bekannte, serifenlose Schriften

Moderne Fonts

Modern Fonts gehören auch zu den serifenlosen Schriften, sie sind jedoch konstruierter und geometrischer. Durch diese klaren geometrischen Linien wirken sie sehr stylisch und schaffen eine coole, zeitgemässe Atmosphäre. Diese Schriften werden gerne von designorientierten Firmen, wie Architekturbüros, Möbelhändlern oder Modemarken ausgewählt.

Wirkung von Modern Fonts:

  • modern
  • progressiv
  • wegweisend
  • zukunftsorientiert
  • stark
  • stylisch
  • schick
Die coolere Version der serifenlosen Schriften

Schreibschriften (Script Fonts)

Schreibschriften sind in ihrem Aussehen so unterschiedlich wie die handschriftlichen Formen, die sie nachahmen. Von Kritzeleien bis Kalligrafie ist alles vertreten. Dementsprechend verschieden kann auch ihre Wirkung sein. Manche sind eher informell, lustig und romantisch und werden gerne für Einladungen aller Art verwendet. Andere Schreibschriften sind mehr von traditioneller Kalligrafie mit Tuschestiften inspiriert und wirken dadurch formeller.

Was alle gemeinsam haben ist, dass sie vor allem für Logos und Überschriften verwendet werden. Aufgrund ihres künstlerischen Charakters mit Schwüngen und Verzierungen sind sie für längere Texte nicht geeignet.

Wirkung von Schreibschriften

  • elegant
  • kreativ
  • luxuriös
  • alternativ
  • einzigartig
  • persönlich
  • emotional
Script Fonts, so unterschiedlich und individuell wie Handschriften

Anzeigeschriften (Display Fonts)

Anzeigeschriften lassen sich nicht in eine der anderen Kategorien einordnen. Sie unterscheiden sich stark im Aussehen, so können sie Serifen haben, serifenlos sein, dekorative Elemente enthalten, eher piktografisch sein usw. Dementsprechend können diese Anzeigeschriften mit vielem assoziiert werden, es kommt ganz auf den individuellen Stil der Schrift an. Gemeinsam ist ihnen, dass sie auffallen sollen. Ihr Einsatzgebiet sind grossformatige Verwendungszwecke wie Plakate, Überschriften usw.

Wirkung von Display Fonts

  • auffallend
  • neuartig
  • einzigartig
  • wegweisend
Display Fonts, meist nur in kleinen Mengen und grossen Grössen sinnvoll

Fazit

Verschiedene Schriftstile haben andere Wirkungen. Eine gut ausgewählte Schrift kann mit ihrer Charakteristik die Aussage eines Textes interpretieren und verstärken. Ob man mit den Schriften gewünschten Emotionen wecken kann, hängt allerdings auch von persönlichen Erfahrungen, Vorlieben und Erinnerungen des Betrachters ab.

Trotzdem lohnt es sich, bei der Auswahl der Schrift sorgfältig vorzugehen, damit Aussage und Aussehen optimal zusammenpassen. Ein Text ist mehr als die Summe seiner Buchstaben, mit der passenden Schrift kann die Geschichte auch visuell erzählt werden.

Mehr erfahren:

Sarah Hyndman – Wake up & smell the fonts

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